Das Institut für Arbeits- und Wirtschaftsrecht trauert um Herbert Wiedemann, seinen langjährigen geschäftsführenden Direktor und großen deutschen Arbeits- und Gesellschaftsrechtler, der in der Nacht zum 1. Oktober 2021 nach einem ausgefüllten Leben als Wissenschaftler verstorben ist.
Herbert Wiedemann, 1932 in Berlin-Grunewald geboren, betrieb sein Studium der Rechtswissenschaft in München zunächst nur als Zweitstudium neben dem Studium der Musik, dem wohl anfänglich seine eigentliche Liebe galt und das ihn bis in die Violin-Meisterklasse von Wolfgang Schneiderhan führte. Die Führungsrolle unter den Neigungen von Herbert Wiedemann übernahm dann doch schnell die Rechtswissenschaft; die Musik sollte aber über sein ganzes Leben einen hohen Stellenwert behalten, auch und gerade im hohen Alter, als sein Sehvermögen stark eingeschränkt war. Als Schüler von Alfred Hueck schrieb er schon parallel zur Referendarzeit seine Dissertation über den verbandswidrigen Streik, 1963 wurde er mit der von Rolf Dietz betreuten Arbeit „Die Übertragung und Vererbung von Mitgliedschaftsrechten bei Handelsgesellschaften” habilitiert, eine Schrift, mit der er schnelle und breite Anerkennung in academia erwarb. Es folgte von 1965 an ein kurzes Wirken an der Freien Universität Berlin, bevor er ab dem 1. Oktober 1967 seine akademische Heimat an der Universität zu Köln fand. Als Direktor des Instituts für Arbeits- und Wirtschaftsrecht prägte er die diesem Institut zugeordneten Rechtsgebiete in Köln über drei Jahrzehnte bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1998. Wenn man weiß, wie sehr Herbert Wiedemann seit jeher der wissenschaftlichen Forschung zugewandt war, kann man sein zugleich stark ausgeprägtes Pflicht- und Verantwortungsgefühl gegenüber seiner alma mater einschätzen, das ihn über viele Jahre die Ämter als Dekan und Prodekan, als Rektor in schwieriger Zeit des Umbruchs und danach als Prorektor der Universität zu Köln wahrnehmen ließ. Die akademische Lehre war für ihn stets mehr als Pflichterfüllung. Von seiner Freude an der Arbeit mit jungen angehenden Juristinnen und Juristen zeugten die akribisch sorgfältige Vorbereitung seines breiten Vorlesungsangebotes im Schuldrecht, Arbeitsrecht und Gesellschaftsrecht und der von ihm für Jurastudierende gegründete Große Klausurenkurs, der eine Examensvorbereitung innerhalb der Universität zuließ und den er von 1970 bis zum Jahr 2002 leitend betreute. Von 1986 bis 1996 war er zudem in Düsseldorf als Richter am dortigen OLG tätig, um auch der von ihm stets mit hohem Respekt begegneten Gerichtspraxis nahe zu sein. In seinen Doktoranden- und Mitarbeiterseminaren pflegte er enge Kontakte zu den obersten Bundesrichtern des zweiten Senates beim BGH und des BAG, die ständige Gäste bei Institutsveranstaltungen waren.
Nach seiner Emeritierung blieb Herbert Wiedemann dem „Haus im Weyertal“ sehr eng verbunden, als ständiger Ansprechpartner für Mitarbeiter und Doktoranden, Mitherausgeber der vom Institut betreuten Zeitschrift „Recht der Arbeit“, Förderer der großen und vielfältigen Institutsbibliothek, Mitveranstalter von Seminaren und vielem mehr. Es war für alle Beteiligten eine glückliche Fügung, dass mit dieser engen Beteiligung am wissenschaftlichen Diskurs auch die Forschung von Herbert Wiedemann weiterhin in den Institutsbetrieb eingebunden blieb, sehr zum Nutzen des Instituts, dessen Mitarbeiter und Institutsleiter sich über die Jahre durch vielfältige Anregungen, Ideen und Ratschläge bereichert fühlen konnten. Dass auch ihm diese Anbindung, wie er es selbst formulierte, in gesundheitlich schwierigen Zeiten geradezu einen Lebenssinn gab, war allen AWR-lern immer eine stille Freude.
Für Herbert Wiedemann war Wissenschaft Berufung, zugleich betrieb er Wissenschaft weit über seine Emeritierung hinaus und bis zum Sommer dieses Jahres mit den Worten Max Webers als „Beruf“. Leidenschaftliche wissenschaftliche Arbeit, liebenswürdige Kollegialität und asketische Lebensführung haben ihn zu einem Gelehrten zeitlosen Stils werden lassen, wie es Peter Hanau – sein langjähriger Kollege an der Universität zu Köln – einmal treffend formuliert hat. Als überzeugter Wissenschaftler arbeitete er sein ganzes Leben kontinuierlich daran, seine wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung und seinen Fachkolleginnen und -kollegen fortzuentwickeln. Die Mitgliedschaft in der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste in Düsseldorf, der er seit 1981 angehörte, bedeutete ihm viel. Zu seinem Selbstverständnis als Rechtswissenschaftler gehörte es auch, den Diskurs durch die Herausgabe führender wissenschaftlicher Zeitschriften und Entscheidungssammlungen zu fördern. Verwiesen sei auf die von ihm gemeinsam mit Marcus Lutter gegründete Zeitschrift für Gesellschaftsrecht (ZGR), die Zeitschrift „Recht der Arbeit“ (RdA), deren Schriftleitung komplett vom Institut für Arbeits- und Wirtschaftsrecht betreut wird, sowie die von Herbert Wiedemann über viele Jahre als Herausgeber betreute AP mit ihren anspruchsvollen Entscheidungsbesprechungen.
Herbert Wiedemann zählte zu jenen herausragenden Rechtsgelehrten des 20. Jahrhunderts, die für sich noch in Anspruch nehmen konnten, einen Gesamtüberblick über das deutsche Zivilrecht oder zumindest über große Teile dieser Rechtsdisziplin zu haben. Schon früh hatte er zudem den Erkenntnisreichtum schätzen gelernt, der aus der Rechtsvergleichung gewonnen werden kann, wobei seine besondere Wertschätzung dem US-amerikanischen Recht galt, dessen Strukturen und insbesondere dessen Gesellschaftsrecht er während einer Gastprofessur und verschiedener Studienaufenthalte an der University of California Berkeley vertieft kennen lernte. Er hat seinen grenzüberschreitenden Blick später mit Gewinn auf das Recht der europäischen Nachbarländer erweitert. Allen seinen zahlreichen Schülern hat er die Bedeutung dieser Rechtserkenntnisquelle vermittelt, für ihn war dies wichtiger als eine „Schulenbildung“, die ihm im Gegenteil ganz unerwünscht erschien, wenn sie eine bestimmte Ideologie voraussetzt.1
Ein wunderbarer Beleg für seine wissenschaftliche Tätigkeit bis ins hohe Alter ist der 2016 erschienene, vom Unterzeichner betreute Sammelband „Spätlese“.2 Das Werk enthält eine nur kleine Auswahl der Schriften von Herbert Wiedemann aus den Jahren 2004 bis 2015. Entsprechend dem breiten Interessengebiet des Autors ist das Spektrum der Beiträge vielfältig. Neben rechtstheoretische und rechtsmethodische Fragen aufgreifenden Beiträgen entstammen die Aufsätze den beiden großen Forschungsfeldern, denen die wissenschaftliche Liebe des Autors neben dem Bürgerlichen Recht seit jeher galt, dem Gesellschaftsrecht und dem Arbeitsrecht.
Herbert Wiedemann ging es in seiner wissenschaftlichen Arbeit niemals um die kleine Münze des isolierten Detailproblems, sondern um Strukturfragen, um Gerechtigkeitsfragen und die stimmige Fortentwicklung des Gesamtsystems. Für die Durchdringung des Gesellschaftsrechts durch Herbert Wiedemann stehen die beiden großen gesellschaftsrechtlichen Lehrbücher von 1980 und 2004, die im gesellschaftsrechtlichen Schrifttum eine ganz singuläre Stellung einnehmen. Die nicht nur für fortgeschrittene Studenten, sondern für jeden etablierten Wissenschaftler lesenswerten Werke enthalten ein gedankliches Konzentrat jahrzehntelanger vertiefter Durchdringung der gesellschaftsrechtlichen Grundprinzipien, die sich aus der schlichten Gesetzeslektüre nicht erschließen. Herbert Wiedemann hat dort und in zahlreichen weiteren Monographien, „Minderheitenschutz und Aktienhandel” (1968), „Haftungsbeschränkung und Kapitaleinsatz in der GmbH” (1968), „Die Unternehmensgruppe im Privatrecht” (1988), „Organverantwortung und Gesellschafterklagen in der Aktiengesellschaft” (1988) sowie seiner Kommentierung der ordentlichen Kapitalerhöhung im Großkommentar zum Aktiengesetz, dessen Mitherausgeber er viele Jahre war, ein sorgfältig durchdachtes System des Gesellschaftsrechts entwickelt. Bewundernswert war, mit welcher Sorgfalt Herbert Wiedemann in den letzten Jahren auch die neueren Rechtsprechungstendenzen interessiert weiter verfolgt hat.
Herbert Wiedemanns Beiträge zum Arbeitsrecht zeichnete stets die Sorge um grundlegende Gerechtigkeitsfragen aus. Seine Liebe galt dem Tarifvertragsrecht, das er durch seinen Kommentar des TVG über viele Jahrzehnte als Herausgeber und Autor zentraler Vorschriften mitgeprägt hat. Herbert Wiedemann hat sich stets, insbesondere aber in den letzten Jahren vertieft mit der Dogmatik des Gleichbehandlungsgrundsatzes, als einem Bestandteil der Gerechtigkeitsidee, und mit dem Schutz durch Diskriminierungsverbote auseinandergesetzt. Erhellende und klarsichtige Ausführungen zum Verhältnis von Gleichheitsgebot und Diskriminierungsverbot als den beiden Spielarten des Gleichheitssatzes sind die Früchte dieser vertieften Befassung mit einem arbeitsrechtlichen Grundlagenthema. In seinen Beiträgen scheint gelegentlich ein gewisser Zweifel an dem Weg der Rechtsprechung durch, die Erwartungen der Beteiligten durch eine – häufig auf eine Interessenabwägung gestützte – Einzelfallgerechtigkeit zu bewältigen. Kann auf diese Weise wirklich eine insgesamt gerechte Sozialordnung erreicht werden? Umso klarer war sein Bekenntnis zur Verpflichtung der Rechtsprechung, Gerechtigkeit wenigstens durch Verwirklichung der Gleichheitsgebote zu vollziehen, indem das, was tatsächlich zu Verfügung steht, leistungs- und sachgerecht verteilt wird.
In den letzten Lebensjahren hatte sich Herbert Wiedemann der enormen psychischen Belastung seiner Erkrankung mit der ihm eigenen Disziplin, christlicher Zuversicht und heiterer Ausgeglichenheit gestellt. Diejenigen, die ihn kannten, wissen, was der Verlust der Sehfähigkeit für ihn, für den die Lektüre und die Auseinandersetzung mit Texten geradezu ein Lebenselixier darstellte, bedeutete. Wie viel Mühe, wie viel zusätzlicher zeitlicher Aufwand, welch eiserner Wille hinter seinem umfangreichen OEuvre auch der letzten Jahre steht, können Außenstehende gleichwohl nur erahnen. Einen gewissen Eindruck, wie Herbert Wiedemann diese Jahre selbst empfunden hat, vermittelt die von ihm gewählte Überschrift über seine kurze Rückschau in der erwähnten „Spätlese“, die den Verfasser dieser Zeilen sehr berührt hat: „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ („Long Day`s Journey into Night“).3 Ein Geschenk für die Nachwelt werden seine Lebenserinnerungen sein, an denen er zuletzt gearbeitet hat und deren Fertigstellung, wie man hört, weit fortgeschritten war.
Das Institut für Arbeits- und Wirtschaftsrecht wird Herbert Wiedemann, als seinem wissenschaftlichen Leiter, der dem Institut nach seinem Gründer Hans Carl Nipperdey zu großem Ansehen und internationaler Sichtbarkeit verholfen hat, stets ein ehrendes Andenken bewahren.
Köln, im Oktober 2021 Martin Henssler
1 Siehe dazu Wiedemann, 75 Jahre Institut für Arbeits- und Wirtschaftsrecht der Universität zu Köln, in: ders., Spätlese, 2017, S. 3, 7.
2 Der Titel des Sammelbandes scheint, so treffend er ist, für Herbert Wiedemann doch eher untypisch launig
pointiert. Wer ihn näher kannte, weiß aber, dass er augenzwinkernde Ironie durchaus schätzte.
3 Titel eines Theaterstücks des US-amerikanischen Dramatikers Eugene O`Neill.